Das Programm der Spielzeit 2022/2023 ist da! 21 Premieren werden in der neuen Saison den Spielplan des Schauspielhaus Bochum und des Theaterreviers für Kinder und Jugendliche prägen. Alle Infos dazu gibt es auf dieser Webseite und in unserer Spielzeitzeitung.

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Für wenige Minuten Ewigkeit

Ein Abend im Schauspielhaus Bochum. Während die Pandemie weiter tobt, während täglich schlimmste Nachrichten vom Krieg in der Ukraine eintreffen, während ein Stockwerk tiefer die letzten Vorbereitungen für die Vorstellung getroffen werden, entwickelt sich zwischen Intendant Johan Simons und Chefdramaturg Vasco Boenisch ein Gespräch über prägende Themen der Zeit, persönliche Ängste und Wünsche und darüber, was es bedeutet, jetzt Theater zu machen.

Vasco Boenisch: Lass uns über die nächste Spielzeit sprechen. Über die Stücke, über Veränderungen im Programm und in der Welt „da draußen“.

Johan Simons: Mein Eindruck ist, dass wir als Theatermacher*innen nicht mehr auf die Suche nach Themen gehen müssen, sondern die Themen uns geradezu heimsuchen. Vor einigen Jahren war es noch so, dass die Theater sich mit Muße hinsetzen konnten, um zu überlegen, welches Thema denn mal die nächste Spielzeit bestimmen könnte. Kapitalismus vielleicht, Neoliberalismus. Ein Thema für eine Spielzeit. Inzwischen ist es so, dass es Themen in Hülle und Fülle gibt, die wir auch als solche wahrnehmen. Krieg, soziale Spaltung, Machtpolitik, strukturelle Diskriminierung, Hetze und Sensationsgier in den vermeintlich „sozialen“ Medien. Klimawandel und Klimaschutz, Aufbruch einer jungen Generation, neues Verantwortungsgefühl und auch Solidarität, neue demokratische Beteiligungsmodelle, Debatten über Teilhabe und Chancengleichheit. Wir können uns vor wichtigen Themen gar nicht retten. Wir müssen nur entscheiden, welche Stücke am besten zu dieser turbulenten Zeit passen. Ruhe gibt es nicht mehr.

VB: Dabei dachten wir noch vor zwei Jahren im ersten Corona-Lockdown, als die ganze Welt stillstand, wir würden …

Durchsage der Inspizientin: Es ist 19 Uhr 15. Das ist das zweite Zeichen für das Große Haus. Ich bitte, die Maschine zu besetzen, und die Spieler*innen auf Position.

VB: … wir alle dachten, wir würden in eine neue Form von Kontemplation geraten, mit viel Zeit, um über gesellschaftliche Fragen gründlich nachzudenken. Tatsächlich fühlen wir uns heute von den Problemen getrieben.

JS: Ja, wir alle werden von Themen und Problemen getrieben. Und jetzt sage ich mal etwas, was man vielleicht nicht aus meinem Mund erwarten würde: Deshalb braucht diese Zeit auch Komödien.

VB: In der neuen Spielzeit gibt es etliche Aufführungen, die sich mit Humor mit dem Leben auseinandersetzen.

JS: Gib mal ein paar Beispiele.

VB: Zum Beispiel Christopher Rüpings Inszenierung Miranda Julys Der erste fiese Typ, die voll hochnotkomischer Situationen steckt, aus dem Leben moderner, paarungswilliger Großstadtmenschen. Oder die Aufführung, die wir mit dem Regisseur Robert Gerloff im Dezember in den Kammerspielen herausbringen wollen, wofür wir gerade noch den passenden Stoff suchen; er ist ja ein Regisseur mit einem großen komödiantischen Talent. Und noch ganz neu im Spielplan ist auch Die Hermannsschlacht – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie aus der vorherigen Spielzeit. Das ist vielleicht ein gutes Beispiel. Natürlich steckt das Originalstück von Kleist voller Krieg, gleichzeitig aber auch Humor – in den Eheszenen zwischen Hermann und Thusnelda oder wenn der römische Feldherr Varus orientierungslos durch den Teutoburger Wald im Kreis geführt wird. Und in unserer Adaption als musikalischer Abend gibt es sehr viel zu lachen – ohne dass man deshalb vor der Welt die Augen verschlösse.

JS: Auf mich wirkt die Welt gerade wie eine Tombola. Es ist eine ratlose Zeit.

VB: Ratlos – und rastlos.

JS: Ja, ratlos und rastlos. Wird die Ukraine vielleicht ein zweites Vietnam? Etwas, was Jahre dauert? Wir können es im Moment überhaupt nicht abschätzen.

Durchsage: Es ist 19 Uhr 25, und das ist das dritte Zeichen fürs Große Haus. Ich bitte, Stellwerk und Ton zu besetzen.

VB: Bei Corona dachten wir auch: Na ja, ein halbes Jahr vielleicht. Jetzt sind wir mehr als zwei Jahre weiter.

JS: Alles entgleitet. Wir haben mit Francis Fukuyama ans „Ende der Geschichte“ geglaubt, waren voller Optimismus, dass nach 1989 alles gut wird; wir im Westen dachten, unser Gesundheitssystem könnte heute keine Epidemie mehr erschüttern; wir haben uns generell zu wenig Gedanken über unser Verhältnis zur Erde gemacht.

VB: Was bleibt uns noch, was haben wir noch in der Hand?

JS: Ich würde sagen: Liebe. Dass wir noch Menschen liebhaben können, ist ein sehr großes Gut. Aber das bedeutet nicht, dass wir es in der Hand haben.

VB: Wie verwundbar sind wir als Theater?

JS: Sehr! Das Theater gerät außer Atmen, wenn ständig Premieren und Vorstellungen abgesagt werden müssen. Wir proben und proben, aber diese Proben führen wiederholt nicht zu Aufführungen. Manche Premiere muss drei, viermal verschoben werden. Das macht mich als Leitung ratlos. Ein anderes Wort fällt mir dazu nicht ein. Wir sind unentwegt damit beschäftigt, Premieren abzusagen, Vorstellungen abzusagen; Proben werden unterbrochen, weil jemand Corona hat, Rollen werden umbesetzt, weil jemand Corona hat. Auch für ein Ensemble ist es schwierig, wenn es fast keinen Applaus, kaum Feedback mehr bekommt, weil so viele Vorstellungen ausfallen.

Durchsage: Ich bitte die Herrengarderobe, Andrea, zur Garderobe von Marius. Andrea, bitte schnell zur Garderobe von Marius.

VB: Diese Motivation ist auch für die Menschen hinter der Bühne wichtig. Wir alle proben und arbeiten ja, um am Ende für Publikum zu spielen.

Durchsage: Und der Einlass beginnt jetzt!

JS: Ich bin froh, dass wir momentan die Sitzplatz-Kapazitäten wieder aufstocken können, auch wenn wir in Bochum weiter vorsichtig sind und nicht voll besetzen. Aber die Zeit der 30-Prozent-Bestuhlung ist erst mal vorbei. Inszenierungen wie Das neue Leben, Ödipus, Herrscher oder Mit anderen Augen hätten wir vor 800 beziehungsweise in den Kammerspielen vor 400 Menschen spielen können. Ging nicht. Das zermürbt, und man muss aufpassen, den Glauben nicht zu verlieren. Wir haben vor vier Jahren angefangen, hier am Schauspielhaus Bochum zu arbeiten – und davon zweieinhalb Jahre im Ausnahmezustand. Eigentlich noch mehr, wenn man Wasserschaden und Renovierungsmaßnahmen dazu rechnet. Aber gut, wir werden da durchkommen.

VB: Was wir auf jeden Fall trainiert haben: Flexibilität.

JS: Und unsere Nerven!

VB: Wie wir 2020 nach dem ersten Lockdown in drei Wochen eine ganze Produktion aus dem Nichts auf die Bühne gewuchtet haben, Die Befristeten von Elias Canetti, mit neun Schauspieler*innen, das ist eine Erfahrung, die uns niemand nehmen kann. Das schweißt auch zusammen.

JS: Oder unsere Livestreamings. Das war neu für uns, aber hat viel positives Feedback gebracht. Schöner als tausend Applaus-Emojis ist dann nur noch der reale Beifall.

VB: Deswegen versuchen wir ja Vorstellungsausfälle wo irgend möglich zu verhindern. Die Schauspieler*innen aus dem Ensemble springen für ihre Kolleg*innen ein, notfalls mit Textbuch in der Hand. Nicht immer geht das; manchmal sind die Rollen zu komplex und die Zeit zu kurz, als dass die Inszenierung nicht auseinanderfliegen würde. Aber wir sind erfinderisch. Und das Publikum ist in solchen Fällen sehr verständnisvoll.

Durchsage: Und die Vorstellung im Großen Haus läuft.

JS: Du selbst bist ja auch schon eingesprungen!

VB: Bei antigone. ein requiem / Die Politiker. Die Krankmeldung des Schauspielers kam anderthalb Stunden vor der Vorstellung. Das war für mich als Dramaturg eine verrückte, auch eine schönverrückte Erfahrung. Beim Kissenmann hat Guy Clemens, eigentlich ja Regisseur der Inszenierung, kurzfristig eine Schauspielerin vertreten. Und das Ensemble hat es sogar hinbekommen, einen musikalischen Abend ohne musikalischen Leiter zu retten. Wir tun alles, um das Publikum nicht nach Hause schicken zu müssen. Ohne dass die künstlerische Qualität zu sehr leidet.

JS: Jede Vorstellung, die nicht stattfindet, ist wie eine Verletzung. Als Schauspieler*in möchte man ja seine Seele mit dem Publikum teilen, seine Gedanken.

VB: Und gleichzeitig findet, während wir hier unsere theaterinternen Nöte haben, nicht weit entfernt ein Krieg statt, auch während wir beide jetzt miteinander sprechen, sterben tatsächlich Menschen, werden verfolgt, leiden, kämpfen ums Überleben. Natürlich ebenso an anderen Orten der Welt, jenseits der Ukraine. Welche Bedeutung hat Theater deiner Meinung nach, wenn sich – aus welchen Gründen auch immer – viele Menschen hier gerade Gedanken über Krieg machen?

JS: Theater ist für mich wie ein Schutzraum für die freien Gedanken. Die Notwendigkeit von Theater ist größer als zuvor. Obwohl sich wegen der Corona-Maßnahmen weniger Publikum versammeln darf, bleibt das Theater ein wichtiger Ort für die Gesellschaft. Hier können wir Gesehenes, Gelesenes, Gehörtes und Erlebtes verarbeiten, diskutieren, reflektieren. Und Neues erfahren. Und miteinander teilen.

VB: Und weil es, wie du sagst, um Gedanken geht, nicht Staatsangehörigkeiten, ist es für mich auch nicht hinnehmbar, per se gegen russische Künstler*innen oder russische Werke vorzugehen.

JS: Was haben Tschechow, Dostojewski oder Schostakowitsch mit Putins Politik zu tun!?

VB: Wann kann Theater auch mal Flucht vor der Wirklichkeit sein?

JS: Ist Flucht negativ gemeint? Ich glaube nicht an Flucht.

VB: Ich muss gerade an unsere Aufführung Baroque denken, die ja auch noch ganz neu ist, mit fünfzehn Monaten Corona-Verspätung im Mai 2022 Premiere hatte. Die Regisseurin Lies Pauwels stellt darin – mit viel Leidenschaft und überbordenden Bildern – Lebenslust und Lebensangst einander gegenüber. Sie geht aus von der Beobachtung, dass es Parallelen zur historischen Zeit des Barock gibt: dass man weiß oder ahnt, wie schlecht es um die Welt bestellt ist, und sich dennoch flüchtet in große Feste, Hedonismus, Verschwendung. Kommt uns ja durchaus bekannt vor. Und diese Themen erscheinen mir 2022 noch mal relevanter, aus dem Gefühl heraus, wie stark wir uns mit existenziellen Themen und Bedrohungen auseinandersetzen, aber manchmal einfach nicht mehr können und nur noch erschöpft sind.

JS: Das Gefühl kann ich gut nachvollziehen. Was ich toll finde an den Aufführungen von Lies Pauwels, ist, dass sie immer auch große Krafträume eröffnet. Sie schenkt mir mit ihren Darsteller*innen Energie. So kann man sich dann auch anderen Themen kraftvoll widmen.

VB: Am Ende der Aufführung hören wir Yoko Ono, die Imagine singt, während sich die neun Darsteller*innen wie nach einer Ohnmacht aufrappeln in eine neue Zeit. Als Lies Pauwels diesen Moment kreierte, im Februar 2021, ging es uns um die Fantasie, eine alternative Welt nach dem Zusammenbruch zu entwerfen. Heute schwingt natürlich auch mit, dass der Song für viele ein Anti-Kriegs-Lied ist.

JS: Das ist eine der großartigen Sachen an Theater: Dass eine Vorstellung über die Zeit unterschiedlich und immer wieder neu wahrgenommen werden kann. Auch Hamlet zum Beispiel hat heute eine andere Aktualität als 2019. An bestimmten Stellen kommen wir gar nicht umhin, an den Krieg in der Ukraine zu denken. Das ist übrigens auch ein Vorteil des deutschsprachigen Theatersystems, dass Inszenierungen lange im Repertoire bleiben können und solch ein Stück seine Aktualität nicht verliert. Als Publikum kann man mit bestimmten Gedanken zu einem Stück ins Theater gehen, und plötzlich merkt man: Vor drei Jahren habe ich den Text ganz anders wahrgenommen als jetzt …! Das ist eine enorme Stärke von Theater und Literatur.

VB: Ein Stoff, mit dem du dich als Regisseur ein zweites Mal beschäftigen wirst, ist Alkestis von Euripides. 2016 hast du die darauf basierende Oper von Gluck bei der Ruhrtriennale inszeniert. Nun gewissermaßen das Original. Blickst du heute anders auf die Geschichte, die das Stück erzählt?

JS: Ja.

Durchsage: Ich bitte jetzt einen Kollegen der Technik für den Tisch zum I-Pult. Technik für Tisch, bitte zum I-Pult.

JS: Ich finde noch immer, dass König und Königin den Kindern zu wenig Aufmerksamkeit schenken; wenn ich daran denke, dass hier ein Mann dazu bestimmt ist, zu sterben und seine Frau an seiner Stelle in die Unterwelt gehen will, dann wundert es mich, dass eigentlich beide dabei wenig an ihre eigenen Kinder denken. Aber nun gut. Worüber ich auf jeden Fall neu nachdenke, ist die Frage des Aufopferns. Pasolini hat mal betont, dass in Kriegen vor allem junge Männer kämpfen, obwohl sie eigentlich noch viel länger zu leben hätten als die ältere Generation. So gesehen ist in Alkestis die Angst des Königs vor dem Tod schon auch etwas lächerlich. Auf die Spitze getrieben wird es noch dadurch, dass selbst sein Vater sich weigert, anstelle seines Sohnes in die Unterwelt zu gehen. Das finde ich eigentlich unvernünftig. Obwohl ich es persönlich nachempfinden kann. Für mich geht es bei dieser Inszenierung nicht zuletzt auch um meine Angst vor dem Tod.

VB: Würdest du dir wünschen, wenn es ginge, dass sich jemand für dich opferte, damit du länger auf der Erde bleiben kannst?

JS: Ich glaube schon, ja.

VB: Aber Elsie (de Brauw, Anm.), deine Ehefrau, würde das nicht tun.

JS: Nein, und das würde ich ihr auch nicht raten. – Alkestis handelt auch davon, dass wir immer denken, das Leben sei endlos. Unseren eigenen Tod können wir uns schwer vorstellen. Lass es mich einmal so sagen: Beruflich stehe ich an einem Punkt, dass im Sommer 2023 mein erster Vertrag als Intendant des Schauspielhaus Bochum endet. Ich könnte aufhören. Aber für mich würde sich das wie ein unvollendetes Leben anfühlen, weil ich mit diesem Haus, den Menschen, dem Publikum noch nicht am Ziel bin. Und obwohl ich wirklich viel erreicht habe in meinem Berufsleben, wäre ich unzufrieden. Solange man am Leben teilhat, ist es nie vollendet. Ich hänge so sehr am Leben – ich finde das eigentlich ziemlich ungesund. (lacht)

VB: Wie kommt es eigentlich, dass im Leben immer nur das zählt, was man zuletzt gemacht hat?

JS: Weil wir nur im Heute und in der Zukunft leben können. Wir sind nicht fähig, die Vergangenheit wirklich anzunehmen und daraus Stärke zu ziehen. Besonders im Theater. Man probt, man arbeitet, man schafft im besten Fall eine gute Inszenierung, auf der Premiere sind alle euphorisiert – doch dann ist es vorbei. Eigentlich ist Theater immer Sterben. Vergänglich. Wenn mich meine Kinder fragen: „Was hast du in deinem Leben gemacht?“, dann kann ich vielleicht zehn Videobänder hervorziehen, von mehr oder weniger gelungenen Fernsehaufzeichnungen. Das ist bei Filmemacher*innen anders, bei bildenden Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Komponist*innen. Deren Werke überdauern. Wir Theaterleute leben für den Moment. Wir erleben für wenige Minuten die Ewigkeit, wenn etwas gelungen ist. Es ist eine besondere Hingabe ans Leben, an den einen Moment. Vielleicht ergibt dieser Moment, wenn er gelingt, einen so viel größeren Ausschlag, dass das erklärt, warum wir Theater machen und nichts anderes.

VB: Ich glaube schon. Ich persönlich empfinde bereits einen ersten Unterschied, ob ich als Zuschauer in einem Theaterpublikum sitze oder in einem Kinopublikum, einfach, weil die Atmosphäre meiner Meinung nach eine andere ist: wie man sich im Foyer bewegt, welche Aufmerksamkeit dem Akt des Zuschauens zukommt, dass ich darauf achte, wer noch alles da ist, ich nehme das alles bewusster wahr als in einem Kinosaal. Vor allem aber ist es doch einzigartig, eine Gemeinschaft zu bilden mit lebendigen Menschen, die in diesem einen Moment vor mir, für mich und für meine Sitznachbar*innen auf der Bühne eine Geschichte erzählen. Es ist ein Austausch von Energien, manchmal auch ganz explizit von Worten, das Bewusstsein, dass alles auch jederzeit anders weitergehen könnte. Und wenn ich mich dann thematisch, inhaltlich, emotional mit denen auf der Bühne verbinden kann, und wenn ich spüre, dass es die Menschen um mich herum auch tun – dann hat das einen wirklich viel größeren emotionalen Ausschlag, als wenn wir zusammen einen guten Film anschauen.

JS: Das stimmt, es geht um diese Live-Verbindungen zwischen Bühne und Publikum. Man dockt an.

VB: Und für genau diese Momente machen wir es.

JS: Es ist wie eine Droge. Wer das einmal erlebt hat, ist im Theater immer auf der Suche nach diesem Moment.

VB: Was sind darüber hinaus Inspirationsquellen für deine Arbeit, welche Künstler*innen, Erlebnisse, Gespräche?

JS: Ich glaube, dass ich sehr viel Inspiration durch die Natur bekomme. Durch die Weite einer Landschaft, wenn sie nicht verbaut ist. Das kann in den Niederlanden sein, wenn ich auf dem Deich stehe, es kann auch an der Küste in England sein, über den Klippen, unter mir das tosende Meer. Dort ist der Himmel weit, und ich fühle mich groß über dem Atlantik. In Holland hängen die Wolken tiefer, und ich bin auf Augenhöhe mit der Landschaft, kleiner, das ist trostreich. Und mich inspirieren Gespräche mit jungen Menschen. Sie geben mir neue Gedanken, Enthusiasmus, den Glauben an die Zukunft.

Durchsage: Ich bitte Sven, die Maschine wieder zu besetzen. Im Großen Haus bitte Maschine besetzen.

JS: Darf ich etwas vom heutigen Tag erzählen? Wir hatten heute das erste Fotoshooting mit dem Ensemble für die neue Spielzeit …

VB: Die Idee ist, das Ensemble an alltäglichen Orten in Bochum zu zeigen und dort miteinander ins Spielen zu geraten.

JS: Und in einer bestimmten Situation wies mich der Fotograf Julian Röder darauf hin, dass die Fotos interessanter werden würden, wenn die Situation nicht nur entspannt und lustig sei. Und da habe ich mich kurz gefragt, ob wir generell im Ensemble mehr Menschen bräuchten, die aufeinanderstoßen? Denn bislang existiert im Ensemble eine sehr große Zuneigung zueinander. Das ist wirklich auffällig, mit wie viel Respekt und, ja, wirklich Liebe sie einander begegnen. Unser Ensemble ist menschlich sehr homogen.

VB: Das ist nicht an allen Theatern so.

JS: Nein, überhaupt nicht. Und eigentlich ist das doch fantastisch. Auch wenn Theater von Konflikten handelt, können die Menschen, die diese Konflikte spielen, sehr zugewandt miteinander umgehen! Sich zueinander bekennen, keine Eifersucht haben, so nehme ich unser Ensemble wahr – und darin liegt das Neue: im Zusammenhalt.

VB: Dieser Kollektivgedanke spiegelt sich auch in einigen unserer Neuproduktionen wider. Die Toneelgroep Amsterdam (ehemals De Warme Winkel) ist ein Theaterkollektiv, und hinter der Abkürzung BVDS verbergen sich die Nachnamen von Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, die seit vielen Jahren als Duo zusammen Theater machen. Nun treffen beide auf unser Ensemble. Künstlerisch sind sie sehr unterschiedlich, wie würdest du ihre Arbeit beschreiben?

JS: Lass es mich vielleicht so sagen: Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot zeigen mir mit ihren Inszenierungen, die sich immer zwischen Theater und Installation bewegen, wie traurig die Plastik-Welt ist, in der wir leben.

VB: Sie arbeiten oft mit lebensechten und doch puppenartigen Masken, die die Spieler*innen wirken lassen, als lebten sie im falschen Film. Underworlds soll eine Sinnes-Erfahrung an der Schwelle zwischen Erde und – da haben wir sie wieder – Unterwelt werden.

JS: Als Zuschauer fühle ich mich bei BVDS immer aufgefordert, mich auf ihre Welt einzulassen. Einzutauchen, gewissermaßen. Dabei suchen sie mit dem Körper eine bestimmte Objektivität, einen Nullpunkt, an dem man nichts tut – was eigentlich unmöglich ist, denn man ist ja existent, also tut man auch etwas, man lebt, atmet. Dieses Spannungsfeld finde ich hoch interessant.

VB: BVDS nennen ihre neue Produktion im Untertitel A Gateway Experience, also eine Art Grenzüberschreitungserfahrung. Das bringt meine Gedanken sofort zu der Inszenierung, die Florian Fischer zu Beginn der Spielzeit für die Kammerspiele plant: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Der Abend basiert auf den autofiktionalen Romanen von Hervé Guibert, der die Aids-Epidemie in den 1980ern miterlebt hat und von seiner eigenen Furcht vor dem Sterben erzählt, insbesondere davon, was das mit der Liebe zu anderen Menschen macht. Und zu sich selbst. Das ist sehr berührend, und natürlich auch mit leisen Parallelen zu der Dynamik von Viruspandemien heute. – Aber noch mal zurück zu De Warme Winkel. Die ja offiziell gar nicht mehr so heißen, sondern Toneelgroep Amsterdam. Sie haben sich den abgelegten und offenbar ungeschützten Namen der berühmten Kompanie von Ivo van Hove gesichert, nachdem er sein Theater in Internationaal Theater Amsterdam umbenannt hat. Allein dieser Clou sagt schon etwas über sie aus.

JS: Oh, ja. De Warme Winkel – ich bleibe mal bei dem alten Namen – sind auf vielerlei Weise spannend. Da ist ihre Ironie, auf jeden Fall. Und gleichzeitig ihre intellektuelle Kraft. Ihr Ideenreichtum. Und sie reden immer auch über das Medium Theater selbst, zum Beispiel indem sie Werke anderer Künstler*innen zitieren und damit spielen.

VB: Sie beschäftigen sich dabei auch mit Fragen nach Identität und Repräsentation – die ja im Theater seit einigen Jahren verstärkt aufkommen. Das machen De Warme Winkel eigentlich schon länger und auf clevere Weise. In Der Bus nach Dachau, was auf einem nicht verfilmten Drehbuch basiert, wird es darum gehen, dass ehemalige KZ-Insassen aus den Niederlanden einen Ausflug in die Gedenkstätte nach Dachau unternehmen. In der Aufführung werden die Niederländer*innen von Deutschen gespielt und die deutschen Nazis von den niederländischen Kompanie-Mitgliedern von De Warme Winkel, pardon: Toneelgroep Amsterdam. Da schwingt sofort die Frage mit: Darf man das, ist das angemessen?

JS: Ja. Denn das ist für mich die Ironie: Ihr Deutschen, mit eurer schrecklichen Vergangenheit und Verantwortung, dürft die Niederländer*innen spielen, und wir spielen die Nazis, die euch jetzt mal befehlen dürfen.

VB: Du argumentierst aus einer Perspektive, in der „dürfen“ eine Chance darstellt, während ich bei „dürfen“ an Verbote denke. Das ist vielleicht auch symptomatisch.

JS: Auf jeden Fall wird diese Besetzung zu Diskussionen führen. Das wird spannend. Und witzig sicher auch.

VB: Über welche Witze kannst du am meisten lachen?

JS: Harte Witze. Ich spotte eigentlich sehr gern.

VB: Und du diskutierst auch gern mal darüber, wie viel Humor „die Deutschen“ haben. Wir werden sehen, wie es mit dem Bus nach Dachau läuft. Aber ich will hier gern einmal eine Lanze für „den deutschen“ Humor brechen – wenn du dir anschaust, dass bei uns das Publikum sowohl über den leise-finnischen Humor von Saara Turunen in Das Gespenst der Normalität lacht als auch über den schwarz-britischen von Martin McDonagh in Der Kissenmann. Beide Vorstellungen sind beim Publikum sehr beliebt. Da kannst du uns jetzt keinen Vorwurf machen.

JS: Natürlich haben die Deutschen Humor. Das Bochumer Publikum finde ich sowieso sehr interessant. Und ich lerne immer noch dazu.

VB: Du verlegst deine Inszenierung von Georg Büchners Woyzeck in eine Zirkusmanege. Gibt es bei Woyzeck auch etwas zu lachen?

JS: Es ist ja ein sehr heruntergekommener Zirkus bei mir. Darin ist Woyzeck so etwas wie ein gescheiterter Zirkusjunge. In seinem Leben misslingen viele Dinge, weshalb er schnell als dumm kategorisiert wird. Für mich ist er eine traurige und eine witzige Figur. Er weiß manchmal nicht, wie er mit seinem Körper richtig umgehen soll. Und seinem Geist entspringen Gedanken, die für andere schwer nachvollziehbar sind. Ich frage mich, ob ihm das bewusst ist.

VB: Dein Zugang zu diesem Stück, das nun endlich nach vielen Verschiebungen in Bochum Premiere haben wird, ist nicht nur das Sozialdrama der geschundenen Kreatur Woyzeck, sondern du gibst der Figur – für deren Interpretation Steven Scharf mit einem Nestroy ausgezeichnet wurde – auch eine große innere Würde.

JS: Woyzeck ist ein geborener Verlierer. Aber er ist auch ein König in seinem eigenen Gedankenreich. Irgendwie ist er auch ein großer Geist. Und er sagt sehr interessante Sätze über die Natur. Wenn wir die Inszenierung jetzt neu proben, bin ich gespannt, was wir aus diesen Sätzen neu herausholen können. Woyzeck spricht von Landschaften, die es so kaum noch gibt. Da hat man unweigerlich Klimawandel-Assoziationen.

VB: Wo du das gerade ansprichst: Klimaschutz wird für uns als Theater natürlich auch immer wichtiger – nicht nur, weil der politische Druck wachsen wird, dass Kulturinstitutionen nachhaltiger arbeiten, sondern auch aus eigenem Antrieb. Wir haben mit dem Klimaforum Wie wollen wir hier leben? seit drei Spielzeiten einen wichtigen Ort zum Austausch für lokale Player und Expert*innen für Klimaschutz, und in Arbeitsgruppen betreiben wir intern und extern die Umstellung von Arbeitsprozessen und die Vernetzung in Sachen Nachhaltigkeit.

JS: Es ist wichtig, an vielen verschiedenen Stellen unser Verhalten und unsere Arbeitsweise umzustellen. Verzicht auf innerdeutsche Flüge, Vermeiden von giftigen Stoffen und Sondermüll, stattdessen recycelbare Materialien. Aber perspektivisch müssen wir auch an die großen Posten wie Wärmeisolation, Energieverbrauch und Transporte heran, und das sind Umstellungen, die ohne finanzielle Investitionen nicht zu machen sein werden. Ich träume ja auch immer noch von Solarpanelen auf dem Dach des Schauspielhauses. Bislang hieß es immer, dass es statisch nicht machbar sei.

VB: Der Klimaschutz ist eine der großen Zukunftsfragen. Man kann allerdings oft den Eindruck gewinnen, wir – hier im Westen, im globalen Norden – redeten sehr viel darüber, was eigentlich zu tun sei, um die Welt gerechter, friedlicher, gesünder zu machen, tun aber de facto zu wenig. Vielleicht auch, weil die Auswirkungen bei uns noch nicht deutlich zu spüren sind. So ähnlich ist die Grundsituation in Kinder der Sonne von Maxim Gorki, was Mateja Koležnik bei uns inszenieren wird. Die gesellschaftliche Elite merkt nicht, wie es den benachteiligten Menschen geht und was sich draußen vor der Tür gerade zusammenbraut.

JS: Ich bin sehr auf Mateja Koležniks erste Inszenierung in Bochum gespannt. Denn sie macht in ihren Aufführungen etwas, was ich sehr interessant finde: Sie sucht sich eine ungekannte Perspektive. Ihre Wiener Inszenierung Fräulein Julie von Strindberg spielt im Zimmer der Köchin, von wo aus man die Gespräche von Julie und Jean verfolgt. König Ödipus hat sie in München auf die Flure außerhalb eines Plenarsaals verlegt, in dem die Politik verhandelt wird. Das heißt, sie verschiebt die Blickwinkel. Und das kann bei Kinder der Sonne auch sehr interessant sein. Mal gucken, welchen Zugang sie wählen wird.

VB: Wir springen ein bisschen in den Themen, aber das finde ich völlig in Ordnung. Noch mal kurz zu Woyzeck. Das ist ja ein Fragment, dessen Szenenreihenfolge nicht vorgeschrieben ist, und deine Inszenierung zeigt, was für eine intensive Geschichte darin steck, obwohl du das Bruchstückhafte sogar noch betonst. Das bringt mich auf das Stück, das Nora Schlocker nächste Saison inszenieren wird: [BLANK] von Alice Birch. Dieses Stück besteht aus 100 Szenen, 400 Seiten lang, und jede Inszenierung kann sich daraus eine eigene Version zusammenstellen. Das Stück wurde 2019 in London uraufgeführt. Im Kern geht es um Frauen, Kinder und Familien, die mit dem Straf- und Sozialsystem in Berührung kommen und versuchen, aus einem Kreislauf von Gewalt und Missbrauch auszubrechen. Je nach Auswahl der Szenen variieren die Geschichten und die Verbindungen der Personen zueinander. Was spannend ist, das heißt nämlich auch, dass Rollen und Verantwortlichkeiten in unserer Gesellschaft sehr flüssig sind.

JS: Das wird sicher ein großer Ensemble-Abend. Nora Schlocker ist als Regisseurin ja stark an Geschichten und Figuren interessiert. Ich finde es auch wichtig, dass wir die zeitgenössische Dramatik damit auf die ganz große Bühne holen, ins Schauspielhaus.

VB: Wenn du das mit dem großen Schauspielhaus betonst, ist jetzt vielleicht der richtige Moment, um über unsere kleinste Spielstätte zu sprechen: das Oval Office. Hier erwartet das Publikum einiges Neues. Vier Jahre lang war der Ort im Keller des Schauspielhauses ein Zentrum für Medienkunst, in dem es faszinierende Installationen zu erleben gab. Gleichzeitig haben wir gespürt, dass uns ein Ort fehlt, an dem wir flexibel kleinere szenische Projekte ermöglichen können. Das wird das neue Oval Office.

JS: Ja, denn die Zeche, unsere andere kleinere Spielstätte, ist fest in den Händen des Jungen Schauspielhauses, und das soll auch so bleiben! Das Theaterrevier hatte durch Corona die denkbar schlechtesten Startmöglichkeiten, um viele Kinder und Jugendliche anzuziehen und für Theater zu begeistern, aber dennoch sind dort schon einige sehr schöne Aufführungen entstanden, wie Ton für Kinder ab zwei Jahren oder Weg vom Fenster, auch eine Vorstellung, in der es viel zu lachen gibt, obwohl es um ein trauriges Thema geht. Ich hoffe, dass das Theaterrevier kommende Spielzeit noch mehr Publikum empfangen kann zu all den Banden-Projekten, Open Stages, Konzerten und neuen Inszenierungen, die Cathrin Rose hier plant. – Aber du wolltest über das Oval Office sprechen.

Durchsage: Im Großen Haus bitte ich jetzt, sich zum Applaus bereitzuhalten.

JS: Das Ensemble hat viele Ideen für eigene Performances, für Stücke, Lieblingsromane, vielleicht ein Late-Night-Format, unerwartete Sachen, und ich freue mich darauf, das alles nächste Spielzeit im Oval Office zu erleben. Die Regieassistent*innen werden hier auch ihre ersten Inszenierungen erarbeiten.

VB: Der Vorteil ist, dass wir dort schnell und unkompliziert sein können. Auf aktuelle Ereignisse in der Welt spontan reagieren. Und buchstäblich näher ran ans Publikum, an die Stadt, auch in engerer Verzahnung mit der Oval Office Bar.

JS: Ich würde mich sehr freuen, wenn das Programm im Oval Office auch Menschen neugierig macht, die sonst vielleicht noch nicht ins Theater gehen.

VB: Das bleibt eines der Ziele. Ort der Inspiration, der Teilhabe und Begegnung sein.

Durchsage: Die Vorstellung im Großen Haus ist beendet. Ich wünsche allen Kolleg*innen einen schönen Feierabend, bis morgen.

JS: Also dann. Ich gehe noch ins Tanas, in die Kantine, mal gucken, wer vom Publikum auch da ist. Kommst du mit …?