Baroque Mercy Dorcas Otieno, Ann Göbel, Eva-Maria Diers, Jing Xiang, Karolin Jörig (v. li.)
© Fred Debrock


Die belgische Regisseurin Lies Pauwels ist berühmt für ihre Arbeit mit nicht-professionellen Spieler*innen. Für ihr neuestes Stück Baroque castete sie mehrgewichtige Personen.

Karolin Jörig steht ganz allein im Zentrum der Bühne. Sie ringt um Worte, spielt, dass sie nichts herausbekommt, deutet dabei ein leichtes Zittern an. „Oh, great. Beautiful!“, staunt eine Frau im Zuschauerraum begeistert, schiebt ihre Lesebrille hoch ins blonde, verstrubbelte Haar, um noch konzentrierter zur Bühne zu blicken. „Can you make that bigger? More?“ Karolin Jörig beginnt, stärker zu zittern, bis schließlich jede Faser ihres Körpers bebt. Lies Pauwels, die Regisseurin, dankt ihr begeistert: „Thank you for sharing this with us!“ Karolin Jörig geht zurück auf ihren Platz, greift, immer noch mit zitterndem Arm, nach ihrer Flasche mit Eistee. Sie ist bei vollem Körpereinsatz an ihr inneres Extrem gegangen. Jetzt können sich die Anstrengung legen – und auch die Emotionen.

Sich öffnen, Gefühle zeigen und an die individuellen Grenzen gehen, dazu bringen die Castings von Lies Pauwels die Menschen. Sie wolle Theater machen, das die Komfortzone verlässt, sagt Pauwels. Wie weit die Menschen da mitgehen können, das testet sie mit ihren Castings. Daher dauern diese meist auch mehrere Stunden – voller intensiver Improvisationsaufgaben. Castings sind für die Regisseurin aus ihrer Arbeit nicht mehr wegzudenkenden. So findet sie am besten Menschen ohne professionellen Theaterhintergrund, die viele ihrer Inszenierungen prägen. Die Arbeit mit den nicht-professionellen Darsteller*innen entspricht ihrer Suche nach Kontrasten, nach Gruppenkonstellationen, Besetzungen, deren Mitglieder sich gegenseitig herausfordern. Sie will mit Realitäten arbeiten, mit Perspektiverweiterungen, und die bringen die Nicht-Profis auf direkte Weise ein.

Für ihr neues Stück am Schauspielhaus Bochum hat sie Menschen gesucht, die gemeinsam mit fünf Schauspieler* innen aus dem Bochumer Ensemble auf der Bühne stehen werden. Wie auch schon bei Der Hamiltonkomplex, ihrer Inszenierung, für die sie dreizehn 13-jährige Mädchen aus Bochum castete, hat sie sich auch diesmal eine ganz bestimmte Eigenschaft ausgesucht, die alle mitwirkenden Nicht-Profis haben sollen: Sie sind mehrgewichtig. Durch diese geteilte Eigenschaft und eine gesellschaftliche Perspektive werden die Nicht-Profis als Gruppe innerhalb der Inszenierung zu einer über sie als Einzelpersonen hinausgehenden Metapher. Für eine Welt des Überflusses, des exzessiven Konsums, der überbordenden Gefühle.

Für die Theater-Neulinge liegt in dem von Lies Pauwels hergestellten Kontrast zwischen ihnen und der Theaterwelt aber auch eine Herausforderung. Das Theater ist für sie ein ungewohnter Raum, ihr Zusammentreffen mit dem Theaterapparat ist eine herausfordernde Begegnung. Dass zur Herstellung eines Kostüms der Körper vermessen wird oder sie plötzlich an einem mehrstündigen Fotoshooting für diesen Artikel teilnehmen, all das hat mit ihrem sonstigen Alltag wenig gemeinsam. Das wird sich allerdings in den Probenwochen bis zur Premiere noch verändern. Bis dahin werden die Nicht-Profis zwar keine Profis geworden sein, das sollen sie auch gar nicht, aber sie werden ganz selbstverständlich neben den Ensemble-Schauspieler*innen auf der großen Bühne des Schauspielhauses stehen. Als ausgebildete Schauspielerin weiß Lies Pauwels, wie angenehm, aber auch herausfordernd das sein kann. Sie sucht für ihre Arbeiten nach Menschen, die nicht mit der Bühne kämpfen, sondern Freiheit auf ihr finden. Auch Kathrin Brüggemann beschreibt die Erfahrung beim Casting als überwältigend und das Auf-der-Bühne-Sein als Gefühl einer anderen Welt – obwohl es ihr am Anfang schwerfiel, die Bühne zu betreten. Sie war mit der Erwartung zum Casting gekommen, nur vorzutreten und beäugt zu werden. Dass sie dann drei Stunden lang eine Improvisationsübung nach der anderen machen sollte – allein und gemeinsam mit ihren Mitstreiter*innen –, überrumpelte sie zunächst einmal. Aber die Möglichkeit, sich so zu zeigen, wie sie ist, beeindruckte und überzeugte Kathrin Brüggemann dann letztendlich von Lies Pauwels’ Arbeitsweise. Auch die anderen Nicht-Profis beschreiben im Nachhinein die Atmosphäre als so vertrauensvoll und ermutigend, dass sie sich mehr zutrauten als gewöhnlich.

Für Lies Pauwels beginnt der kreative Prozess in dem Moment, in dem sie auf Menschen trifft, die möglicherweise in ihren Inszenierungen mitspielen. So ist es durchaus schon vorgekommen, dass es eine Improvisation aus einem Casting später in den Theaterabend geschafft hat. Sie lässt sich von den Menschen inspirieren und voll und ganz auf deren Persönlichkeit ein. Diejenigen, die sie aussucht, mit ihr zu arbeiten, werden für die Inszenierung unersetzbar. „The people are the play“, sagt Lies Pauwels über ihre Arbeitsweise.

Was sie nicht erwartet, ist, dass die Mitwirkenden ihr etwas „vorspielen“. Stattdessen stellt sie ihnen Aufgaben, die sie dazu bringen, sich selbst neu kennenzulernen. Durchaus gewöhnungsbedürftig. Karolin Jörig hatte erwartet, dass sie Shakespeare-Texte aufsagen müsste (dabei hätte sie nur Harry Potter zitieren können). Dass sie aber demonstrieren müsste, wie es aussieht, wenn ein Schuss sie treffen würde, sodass sie zu Boden geht, oder versuchen sollte zu sprechen, ohne dass es ihr gelingt, auch nur ein Wort herauszubekommen – und welche echten Gefühle bei solchen Übungen hochkommen können, damit hatte sie nicht gerechnet. Ähnlich beschreibt es auch Eva-Maria Diers und ergänzt: „Bei all dem hatte ich immer das Gefühl, dass es auf jede*n Einzelne*n ankam.“ Das tat es wirklich. Die Entscheidung für die einzelnen Mitwirkenden hängt für Lies Pauwels letztendlich von der Gruppenkonstellation ab, weswegen sie stets in Gruppen castet, um zu erproben, wie die Mitwirkenden miteinander agieren und wirken.

UND WELCHE ROLLE SPIELST DU?

„Du bist dabei!“ Mitten im Unterricht erhielt Jasmin Schafrina, die noch zur Schule geht, den Anruf vom Schauspielhaus. Alle Augen in der Klasse ruhten auf ihr: War es das Schauspielhaus? Auf ihr breit grinsendes Nicken bestürmten sie ihre Freund*innen und gratulierten ihr zum Casting-Erfolg, inklusive ihres etwas verdutzten Lehrers. Auch Eva-Maria Diers, die in einer Vollzeit-Stelle als Lehrerin arbeitet, erreichte die Zusage in der Schule. Augenblicklich fing sie an zu hüpfen und zu jubeln und konnte gar nicht mehr richtig zuhören. Um sie herum jubelten bereits ihre Kolleg*innen im Lehrerzimmer.

Jetzt werden die nicht-professionellen Darstellerinnen ständig gefragt, welche Rolle sie in Baroque denn spielen würden? Keine. Denn in Lies Pauwels’ Stückentwicklung geht es nicht um das Spielen zugeteilter Rollen. Gerade deswegen können hier nicht-ausgebildete Spieler*innen ebenso wie Profis ihren großen Auftritt haben. Die Regisseurin will sie alle gleichermaßen kennenlernen, will auch, dass ihr Publikum diese Menschen kennenlernt und damit genau wie sie die eigene Perspektive erweitert. Auf der Basis von Improvisationen entwickeln die neun Spieler*innen mit Lies Pauwels einen Abend, bestehend aus echten und gespielten Gefühlen, aus Musik, Bewegung und vor allem starken Bildern – die nicht zwingend privat sein, aber mit Sicherheit persönlich berühren werden.

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Text: Felicitas Arnold, Clara Grigoleit

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