In der preisgekrönten Inszenierung Einfach das Ende der Welt kehrt der Sohn nach zwölf Jahren zu seiner Familie zurück, von der er als junger Mann enttäuscht weggezogen ist. Alle Familienmitglieder haben seitdem unterschiedliche Leben geführt und versuchen nun eine Wiederbegegnung. Maja Beckmann spielt die Schwägerin des Sohnes. Von 2001 bis 2013 gehörte sie zum Ensemble des Schauspielhaus Bochum. Im Gespräch mit Vasco Boenisch erzählt sie von ihrer Kindheit in Herne, ihrer Verankerung in der Familie, ihrer besonderen Verbindung zur Schwester Lina Beckmann und was es bedeutet, von zu Hause wegzugehen – und heimzukommen

Wer zählt für dich zur Familie?
An erster Stelle sind das mein Sohn und meine vier Geschwister. Dann kommt meine Mama. Und dann kommen die Kinder meiner Geschwister. Aber das ist wirklich alles sehr nah beieinander. Wie ein Knäuel. Oder ein Rudel, in dem man miteinander läuft. Manchmal kuschelt man sich mehr an den, manchmal sucht man mehr die; je nachdem, was man braucht.

Was war die längste Zeit, die du von deiner Familie getrennt warst?
Ich kann es schwer in Zeit messen, ich messe es eher in Entfernung. Im Jahr 2013 bin ich aus Bochum weggezogen, wodurch ich mich auch von meiner Familie entfernt habe: zunächst nach Stuttgart, dann München, seit 2019 Zürich. Immer weiter südlich, immer weiter weg, immer schrecklicher, weil die Distanz immer größer wird. Ich habe das Gefühl, jetzt gerade sehr lange und sehr weit weg von meiner Familie zu sein.

Wie fühlt es sich dann für dich an, zu ihr zurückzukehren, wenn du sie besuchst?
Es ist immer etwas Besonderes. Jetzt zum Beispiel zieht mein Sohn in seine erste eigene Bochumer Wohnung, zusammen mit seiner Freundin, und ich helfe beim Umzug. Das fühlt sich seltsam und schön zugleich an, wenn ich ihn mir so anschaue, wie er neben mir herläuft, ein riesig großer Mensch ...

... wie viel größer ist er denn?
Er kommt mir vor wie ein Baum. Einfach riesig. (lacht)

Du nennst deine Familie ein Rudel, in dem du dich mal an den, mal an die kuschelst. Gibt es dennoch eine Person, mit der du am engsten Kontakt hältst?
Meiner Schwester Lina stehe ich am nächsten. Das ist schlimm, das auszusprechen, weil meine Brüder und mein Sohn denken könnten, ich hätte sie nicht so lieb. Dabei hat Nähe nichts mit Liebe zu tun. Ich liebe alle gleich viel, nur unterschiedlich. Mit Lina teile ich am meisten, was aber nichts damit zu tun hat, dass ich sie am liebsten hätte. Seltsam, oder?!

Liegt es daran, dass ihr im selben Beruf arbeitet?
Bestimmt hat das großen Anteil. Vielleicht ist es aber auch etwas, was man gar nicht richtig aussprechen kann. Vielleicht finde ich dafür nicht die richtigen Worte, warum ich sage: Dieser Mensch steht mir besonders nahe.

Was macht eure Nähe aus? Telefoniert ihr oft, schickt euch Textnachrichten?
Gar nicht mal. Unsere Nähe hat eine ganz tiefe Selbstverständlichkeit. Eine bedingungslose Liebe, die ich natürlich zu meiner Familie sowieso habe, was wunderschön ist. Liebe in ihrem Ursprung ist an keine Bedingung geknüpft. Das schaffe ich am besten mit meiner Familie.

In anderen Beziehungen ist das anders?
Ja, außerhalb der Familie beginnt es schon, schwierig zu werden, weil man da doch Wünsche hat, weil Bedingungen auftauchen, man etwas fordert. In solchen Momenten erinnere ich mich immer: Liebe an sich hat keine Bedingung, sonst ist es nicht Liebe. So etwas ist mit meinen Geschwistern verbunden, insbesondere mit Lina. Wobei ich schon traurig bin, wenn wir uns lange nicht hören oder ich sie anrufe und sie sich lange nicht zurückmeldet. Dann denke ich: Wieso bin ich denn so unwichtig in ihrem Leben!? (lacht) Aber ich kann das dann immer schnell wieder zurechtrücken, weil ich weiß, was in ihrem Leben los ist.

Was ist denn „lange“ für dich?
Das kann manchmal eine Stunde sein. Wenn es ein Notfall ist und sie sich eine Stunde lang nicht meldet, kann das schon wehtun. Manchmal, wenn wir beide in Endproben für eine neue Inszenierung sind, können es aber auch drei Wochen sein, in denen wir keinen Kontakt haben. Meinen Bruder in Berlin höre ich manchmal einen Monat lang nicht, aber das ist unser Rhythmus. Ich habe mit jeder und jedem einen eigenen Rhythmus.

Wenn du jetzt, wie an diesem Wochenende, an dem wir uns hier unterhalten, nach Hause kommst, nach Herne, wer ist dann überhaupt noch da?
In Herne wohnte immer noch mein Sohn. Aber jetzt lebt er nicht mehr dort. Warte mal: In Herne ist niemand mehr. Au!

Wo bleibst du denn dann, wenn du „hierher“ zurückkommst?
Gute Frage. Bislang bin ich immer in Herne untergekommen, wo mein Sohn mit seinem Vater lebte. Jetzt muss ich wohl fragen, ob ich bei meinem Sohn und seiner Freundin auf dem Sofa schlafen kann. Oder bei meinem Bruder in Witten, er hat mit seiner Familie ein großes Haus, oder bei meinem anderen Bruder in Dortmund. Mein Herne-Domizil ist jetzt wirklich weg. – Ich brauche eine Zweitwohnung in Herne!

Herne war der Ort deiner Kindheit. Ihr lebtet in einem alten Zechenhaus. Seit wann gibt es diesen Ort für euch als Familie nicht mehr?
Schon sehr lange nicht mehr. Als ich ungefähr 20 Jahre alt war, hat unsere Mutter es verkauft, weil sich die Familie auflöste: Ich zog aus, Lina, Malte; da war es zu viel Haus für zu wenige Menschen.

Das heißt, wenn du – wie der Protagonist in dem Stück Einfach das Ende der Welt – zu deiner Familie nach Hause zurückkehren wolltest, dann müsstet ihr euch extra woanders versammeln.
Stimmt, es gibt mein Haus nicht mehr, keine Heimat, kein Kinderzimmer. Es gibt das nicht wie im Stück: Ich kehre zurück nach Hause. Wenn ich sage, ich kehre nach Hause zurück, dann sind es die Stadt und ihre Orte und die Menschen, meine Geschwister, Freundinnen und Freunde. Aber kein Haus.

Dabei sind mit dem Haus doch bestimmt viele Erinnerungen verbunden?
Nach der Zürcher Premiere von Einfach das Ende der Welt bin ich tatsächlich nach Herne gefahren und habe mich vor das Haus gestellt, das es noch gibt. Ich wollte wissen, wie es ist, wenn man an den Ort der Kindheit zurückkehrt. Ich stand vor dem Haus, schaute durch das Tor auf die Garagen – und das war krass. Erst einmal ist das Haus viel, viel kleiner als in der Erinnerung. Und dann kommen schlaglichtartig Bilder zurück. Wie ich morgens auf Socken aus dem Haus laufe. Wie ich Fahrrad im Hof fahre. Wie sich der Griff der Klinke anfühlt, wenn ich die Garage öffne. Wie ich auf die Klinke steige und dann auf die Tür und dann aufs Garagendach, um von dort zum Kirschbaum zu klettern. Das lief ganz schnell im Kopf ab. Wie der Wasserschlauch im Planschbecken im Morgenlicht glänzt. Das war wirklich ein krasses Gefühl, eine sehr emotionale Rückkehr. Ich hatte an diesem Ort eine sehr schöne und sehr intensive Kindheit.

Es war also ein guter, warmer Moment der Erinnerung – oder doch auch das Gefühl des Verlustes, der Unwiederbringlichkeit?
Eine schöne Feststellung. Es war beides. Man wünscht sich kurz wieder zurück, deswegen erlebt man einen Verlust. Weil es nie wiederkommen wird. Das Gefühl der Kindheit, der Freiheit, der Verbundenheit. Ohne Sorgen. Wir fühlten uns damals aufgehoben, wir konnten uns so frei bewegen, es gab wenige Regeln. Diese Sommerabende. Das Vorlesen von Mama. Das Zur-Schule-Gehen – das war die einzige Regel –, diese Schule, dann von dort zurück nach Hause zu kommen. Ferienanfang. Es war einfach richtig, richtig schön.

Zunächst bist du, als junge Frau, von Herne nach Bochum gezogen ...
Warte mal. Mir fällt gerade ein, dass ich ja noch früher das erste Mal von zu Hause weg bin. In der Schulzeit in Herne habe ich mich verliebt, in einen Franken, und dann bin ich ihm nach Nürnberg nachgezogen. Dort, in Fürth, ist unser Sohn geboren worden. Nach einem Jahr bin ich aber wieder zurück. Und dann schließlich von Herne nach Bochum. Diese Distanz kann man aber gut mit dem Fahrrad überbrücken.

Der richtige Wegzug von deiner Familie erfolgte also mit deinem Weggang aus Bochum. Warum wolltest du fort?
Wir alle in der Familie haben uns immer mal wieder auch voneinander entfernt. Das ist wichtig, damit alle ihren individuellen Weg gehen können. Man muss auch mal raus aus dem Rudel. Die anderen sind ja weiterhin da. Ich habe nie das Gefühl, dass ich ganz allein auf der Welt bin.

Du wolltest aber etwas „alleiniger“ sein.
Ich wusste, dass ich mich von meiner Heimat und meiner Familie entfernen musste. Es gibt solche Phasen im Leben, in denen man sehr mit sich beschäftigt ist und etwas für sich rausfinden will, da wird der Kontakt zur Familie unweigerlich weniger intensiv. Aus Bochum wegzugehen, in dem Fall nach Stuttgart, war für mich ein großer Schritt. Ich wollte sehen, wie es sich anfühlt, an einen Ort zu kommen, an dem man noch keine Geschichte hat, keinen Fußabdruck, wo man niemand ist.

Und wie war es?
Schön! Es hatte etwas Befreiendes. Es war toll, ganz neu irgendwo anzufangen. Was natürlich nicht schön war, war die Distanz zu meinem Sohn. Es war kompliziert, trotz der Entfernung genug Zeit füreinander zu finden. Damals war er stärker mit seinem Vater verbunden, und ich bin unendlich dankbar, dass die beiden ein so gutes Verhältnis haben; ich allein hätte das über die Distanz nicht hinbekommen.

Inwiefern kann Familie nicht nur Nähe, sondern auch Enge bedeuten, sogar Beklemmung?
Von mir würde ich das nicht sagen. Aber ich weiß, was gemeint ist. Vielleicht würde ich eher von Verantwortung sprechen, ich fühle mich innerhalb meiner Familie verantwortlich – auch wenn das niemand von mir verlangt. Diese Verantwortung bringt manchmal eine gewisse Schwere mit sich.

Die Dramaturgin von Einfach das Ende der Welt, Katinka Deecke, nennt im Programmheft Familie „das verworrenste Spiegelkabinett menschlicher Beziehungen überhaupt“. Eine Mischung aus Nähe, Kenntnis, Unkenntnis, Fremdwahrnehmung, Selbstwahrnehmung.
Es ist ein wahnsinnig krasser Mikrokosmos. Man ist sich so nah und kann sich gleichzeitig so fern sein. Für manche bedeutet es einen großen Kampf, sich aus dem zu befreien, wo man herkommt, wo man „entstanden“ ist. Ich erlebe Familie zum Glück als positiv, als schützend und stärkend.

Gibt es Eigenschaften von dir, die deine Familie nicht kennt oder nicht sieht?
Bestimmt. Aber welche? Wir haben Weihnachten mal ein Spiel gespielt, reihum: „Wusstet ihr eigentlich, dass ich ...?“ Die Regel war, dass man nicht kommentiert, nicht bewertet, nicht nachfragt. Es fing ganz harmlos an: „Wusstet ihr eigentlich, dass ich Horrorfilme liebe?“ „Wusstet ihr eigentlich, dass ich Comics auf dem Klo lesen?“ Dann war mein Bruder dran, und er sagte: „Wusstet ihr eigentlich, dass Anna und ich geheiratet haben?“ Und alle: Was!?! Damit war das Spiel dann beendet, weil niemand wusste, dass sie schon seit zwei Jahren verheiratet waren. Also, wir müssten das Spiel mal wieder spielen, dann aber viele Runden, damit man auch an Punkte kommt, an denen man sagt: „Wusstet ihr eigentlich, dass ich auch asoziale Züge an mir habe?“ Solche Sachen. Ich traue mir und meiner Familie zu, dass wir uns Dinge sagen, die wir nie miteinander verbinden würden. Ich weiß zum Beispiel von meinem Bruder sehr, sehr viel, aber es gibt sicher auch Dinge, die er nur in anderen Konstellationen lebt.

Wann haben sich deine Familienmitglieder mal in dir getäuscht?
Das kam bisher nie zur Sprache. Dass sie womöglich gesagt hätten: Mensch, da hätte ich erwartet, dass du anders reagierst, dass du mehr da bist; da bin ich traurig, dass du nicht teilgenommen hast. So etwas. Wenn ich jetzt aber sage, dass das nie formuliert wurde, stehe ich als ein ganz schön guter Mensch da. (lacht) Dabei kam das sicher vor, weil ich in bestimmten Situationen nicht geholfen habe, nicht für sie da war. Ich gebe mir Mühe, das nicht zu verpassen. Dafür bedeutet mir meine Familie zu viel. Das verstärkt sich bei mir auch mit dem Alter, dass ich nur noch Zeit mit Menschen verbringen möchte, die mir etwas bedeuten. Es macht keinen Sinn, mit Menschen Zeit zu verbringen, mit denen ich mir nichts zu sagen habe.

Welches Bild hast du von dir selbst?
Gute Frage. Das frage ich mich auch manchmal, wer ich eigentlich bin. Und wer ich sein möchte. Das verändert sich auch oft. Ich denke zum Beispiel heute viel stärker über die Auswirkungen meines Handelns nach. Früher habe ich kaum reflektiert, was mein Verhalten bei anderen auslöst. Ich kämpfe heute stärker mit mir, dass das, was ich sage, auch mit dem übereinstimmt, was ich tue. Das ist komischerweise gar nicht so einfach. Wir Menschen bestehen schon aus ziemlich vielen Widersprüchen. Und die kriegt man nicht so leicht zusammen – sonst wären es ja auch keine Widersprüche.

Christopher Rüping, der Regisseur von Einfach das Ende der Welt, sagt, dass die unterschiedlichen Vorstellungen, die man in Familien von sich selbst und voneinander hat, echte Begegnungen verhindern können. Kannst du das nachvollziehen?
Ja. Die Vorstellung davon, was oder wie jemand sein soll, kann einer Begegnung im Weg stehen. Das habe ich auch in meiner Familie erlebt, wenn auch nicht in solch einer Härte und Dauer, dass man jemanden sein Leben lang verkennt. Das ist in unserem Stück extrem.

In dem Stück kehrt der verlorene Sohn nach zwölf Jahren zurück, eigentlich um die Nachricht von seinem bevorstehenden Tod zu überbringen, aber es kommt gar nicht dazu, weil alte Narben und Verkennungen und Konflikte wieder aufbrechen.
In dem Stück ist es sehr schmerzhaft, und ich wünsche mir das für niemanden, dass man so verkannt wird und dadurch eine echte Begegnung nie stattfinden kann oder erst sehr, sehr spät. Wenn das über Jahre unterbleibt, ist es eine tiefe Verletzung festzustellen: Ihr wisst nicht, wer ich bin. – Na, dann sag doch, wer du bist. – Nein, ihr würdet es nicht verstehen. – Wie soll man so etwas auflösen? Das habe ich zum Glück nie erleben müssen.

Welche persönlichen Erfahrungen konntest du in deine Figur einbringen?
Meine Figur gehört in dem Stück ja nicht zum Inner Circle der Familie, ich spiele die Schwägerin der Hauptperson. Aber ihr Bemühen um Harmonie hat viel mit mir zu tun. Der Wunsch, es gut miteinander zu haben, wenn auch ohne dass man alles einebnet oder unter Zuckerguss verdeckt. Meine Figur erkennt, dass es Disharmonie gibt, und sie wünscht sich, dass wahre Begegnungen stattfinden, dass die richtigen Fragen gestellt werden und dass man einander zuhört. Das wünscht sie sich von Herzen. So würde es mir auch gehen.

Aber gerade in Familien hat man doch auch Angst vor diesen wahren Begegnungen.
Was würde denn passieren, wenn man nicht länger Zuckerguss über familiäre Konflikte streicht oder alles unter den Teppich kehrt!? Mich beschäftigt diese Frage schon lange. Ich sehe diese Teppiche regelrecht vor mir, unter die alles gekehrt wird und die voller Beulen und Haufen sind. Das ist eigentlich etwas, was ich mit der Generation meiner Großmutter verbinde: Wohnungen aus Haufen. Weil man das so gepflegt hat und nicht daran interessiert war, den Zuckerguss weg zu lassen. Ich persönlich will das aber nicht mehr, ich will nicht mehr über Haufenteppiche stolpern. Ich möchte sagen: Traut euch! Traut euch, euch den Menschen, die ihr liebt, zuzumuten! Denn sie können das auffangen. Andernfalls weiß am Ende niemand, wer du bist. Das aber will ich doch, dass meine Familie weiß, wer ich bin. So gut es irgendwie geht.

Du hast gesagt, dass du eine sehr enge Verbindung zu deiner Schwester Lina Beckmann hast. Ihr seid ja ein sehr besonderes Schauspielerinnen-Schwestern-Paar. Bist du bereit für ein paar Lina-Maja-Fragen?
Klar!

Ihr spielt beide große, oft auch hoch emotionale Rollen. Habt ihr eigentlich schon mal die gleiche Figur verkörpert?
Lass mal überlegen. Ich glaube, nein. Wir haben beide Die Ratten gespielt, sie 2012 bei Karin Henkel in Köln, ich 2011 bei David Bösch in Bochum, aber nicht die gleiche Rolle; sie war Frau John und ich Pauline Piperkarcka. Gab es sonst noch etwas? Nein, nie.

Ihr seid beide vielfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Gab es eine Ehrung, die du erhalten hast, sie aber noch nicht, und die du ihr gönnen würdest?
Sie hat unglaublich viele Preise bekommen. O, Gott, welcher könnte denn noch fehlen? Ich selbst würde ihr gern einen Preis verleihen: als beste Schwester und großartige Künstlerin. Den könnte ich ihr basteln.

Wie sähe er denn aus, dein Preis, damit er zu Lina passen würde?
Irgendwas aus Fimo, weil wir früher immer damit gebastelt haben. Oder etwas mit Kastanien, was sehr schwer ist und was wir deshalb nie basteln wollten, worauf wir aber stolz waren, wenn es gelang. Etwas nach dem Motto: Schau mal, das habe ich für dich gemacht, diese Kastanie mit diesen Streichhölzern, das war richtig viel Arbeit, und das bekommst du jetzt! (lacht) Oder ich mache ihr eine Skulptur aus Speckstein, was auch mir Spaß macht zu basteln. Ich könnte ihr auch ein Ölbild malen.

Du malst?
Früher habe ich manchmal gemalt. – Oder ich mache ihr eine ganz kleine Mini-Zeichnung, so ganz, ganz klein, in einer Streichholzschachtel, das wäre auch etwas Schönes.

Wie häufig besucht ihr euch bei euren Premieren?
Nicht so oft. Der Beruf steht auch an zweiter Stelle, in erster Linie ist sie meine Schwester. Ich weiß natürlich, dass es Arbeiten gibt, die ihr sehr wichtig sind. Da begleiten wir uns, und ich versuche, zu ihren Premieren zu fahren. Sie versucht wiederum, zu meinen Premieren zu kommen. Es ist aber auch nicht immer einfach, mit Alltag und Kind und gleichzeitig so viel eigener Arbeit. Da kommt sie nicht hinterher. Wir rufen auf jeden Fall an und beruhigen einander, wenn es schwer wird.

Was kann sie, was du nicht kannst?
Sehr viel. Ich glaube, sie scheißt sich noch weniger. Sie geht noch mehr nach vorn, sie ist noch lauter, größer in vielem. Das kann ich nicht. Ich bin vorsichtiger.

Bezogen auf die Bühne oder das Leben?
Bezogen auf die Bühne. Im Leben ist es komischerweise anders herum. Da ist sie vorsichtiger, auch im Umgang mit Veränderungen. Da ermutige ich sie, dass man eine Veränderung nicht als etwas Angsteinflößendes erleben muss. Auf der Bühne ist es umgekehrt – das ist doch eigentlich schön.

Sagt sie dir, wofür sie dich bewundert?
Bewundern ist vielleicht das falsche Wort. Aber sie beobachtet natürlich, dass ich zurzeit eine große künstlerische Freiheit erlebe: in der Gruppe rund um Christopher Rüping und bestimmte Schauspieler*innen, mit denen ich seit Jahren kontinuierlich zusammenarbeite. So etwas in der Form hat sie nicht. Ich glaube, dass sie das ganz liebevoll anschaut und sich für mich freut. Und dass sie sich vielleicht überlegt, wie es wäre, wenn sie auch so eine feste Gruppe hätte, mit der man gemeinsam Wege und Formen sucht und weiterentwickelt. Wenn wir uns über Theater austauschen, merke ich, wie sich die Arbeitsweisen unterscheiden, die Form von Teamgeist, den ich zurzeit erlebe, und der, den sie erlebt.

Du hast für dich auch im Theater eine Familie gefunden, die über das hinaus geht, was man gemeinhin als „Theaterfamilie“ bezeichnet.
Ja, das ist etwas sehr, sehr Besonderes. Zu dieser Gruppe gehört weitestgehend das Ensemble von Einfach das Ende der Welt: Christopher Rüping und die Schauspieler*innen Nils Kahnwald, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer. Und dann schon ganz dicht Anna Drexler, obwohl wir seit 2017 nicht mehr zusammengespielt haben. Und dann kommt der Musiker Matze Prölloch. Und dann Benjamin Radjaipour von Dionysos Stadt, was wir 2018 an den Münchner Kammerspielen gespielt haben, und dann wird der Kreis immer größer. Aber die aktuelle Kernfamilie sind Wiebke, Benjamin und Nils.

Zurzeit spielt ihr zusammen in jeder Aufführung, die Christopher Rüping als Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich inszeniert. Das ermöglicht eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit und das Glück, kontinuierlich auf gemeinsamen Erfahrungen aufbauen zu können. Gibt es in dieser Theaterfamilie auch mal Lagerkoller?
Sagen wir so: Nähe bedeutet nicht gleichzeitig auch gute Arbeit. Es kann auch sein, dass die Nähe, die du zu jemanden hast, eine Arbeit erschwert. Und dass umgekehrt Distanz – natürlich kombiniert mit Verbundenheit – eine Arbeit manchmal sehr stark aufblühen lässt.

Distanz mit Verbundenheit – wie in der richtigen Familie?
Was kann Theaterfamilie denn alles sein: Heißt es vielleicht auch, dass man sich aus den Augen verlieren, sich nach drei Jahren wieder treffen kann – und die Verbundenheit ist trotzdem da, obwohl wir gar nicht voneinander wissen, wo die anderen gerade im Leben stehen? Wenn man dann etwas miteinander auf der Bühne proben würde, es würde funktionieren, weil eine Verbundenheit vorhanden ist. Ich weiß nicht, wie man miteinander verbunden sein kann, obwohl man manchmal nicht miteinander in Kontakt ist. Aber das geht. Ich finde das sehr spannend. Was ist Verbundenheit, wo kommt sie her, wieso ist sie da? Magic!

Mit Lina bist du bisher im Rahmen der Spielkinder, eures Geschwisterprojekts mit euren Brüdern Nils und Till, aufgetreten. Würdet ihr gern mal zusammen in einer großen Inszenierung spielen?
Lina und ich haben ja zusammen diesen Titanic-Abend in der Theater-Bar des Schauspielhauses gemacht, 2004 war das. Und dann kamen bei Lina Zürich, Köln, Hamburg, und bei mir gingen all die anderen Wege los. Ich finde es schon toll, wie wir beide unabhängig voneinander ganz unterschiedlich unseren Weg gemacht haben. Wir mussten uns erst mal finden: Wer bin ich eigentlich? Dieser Prozess ist zwar nicht zu Ende, aber ich mag den Gedanken, dass man auseinander geht, um wieder zusammenzukommen. Mit anderen Worten: Ich finde, wir müssten das jetzt mal machen. Es wäre wirklich absurd, wenn wir nicht probieren würden, was passiert, wenn wir auf der Bühne aufeinandertreffen, nach der langen Zeit. Das kann sehr spannend werden. Ich traue mich kaum, das auszusprechen: Was ist, wenn wir mal zusammen spielen? Aber allein der Gedanke ist schon reizvoll. Und ich hätte richtig Lust darauf! Es ist an der Zeit.

Eine Beckmann-Schwestern-WG: Wäre das Wunsch- oder Albtraum?
Du wirst lachen: Genau das machen wir jetzt. Das ist unser Projekt. Ich ziehe bei Lina und ihrer Familie ein.

Damit entsteht dann ein neues Familien-Zuhause für dich.
Wir wohnten ja früher in der Wilhelm-Stumpf-Straße in Bochum auch im selben Haus: ich oben, neben mir Till, unten Lina. Das war ziemlich cool. Die Wohnungen waren nah, die Türen standen offen, wir sind immer hoch und runter gelaufen, aber alle hatten auch ihre Privatsphäre. Dann haben wir unsere unterschiedlichen Wege verfolgt und doch mindestens einmal im Jahr überlegt, ob wir nicht wieder so ein Projekt realisieren können. Das ging leider nicht wegen der verschiedenen Kinder, Schulen und so weiter. Aber der Gedanke blieb: Warum machen wir das nicht!? Und kürzlich hat Lina zu mir gesagt: Wir haben dieses Zimmer frei, wohne doch hier! Und so ist es jetzt. Unsere kleine WG: Lina, Charly, Linas Sohn und ich.

Okay, aber du arbeitest doch weiterhin in Zürich, bist dort im Ensemble. Wann bist du denn dann de facto bei deiner neuen WG-Familie? An Weihnachten.
An meinem Geburtstag und an Weihnachten! (lacht) Ich will da ja sein. In Zürich halte ich es gut aus, wenn ich arbeite. Aber daneben kriege ich dort kein Leben hin. Außerhalb der Proben fühle ich mich dort einsam. Da fehlt mir einfach meine Familie.

 

Maja Beckmann, geboren 1977 in Herne, kommt aus einer Theaterfamilie, drei von ihren vier Geschwistern sind wie sie Schauspieler*innen, mit denen sie auch in der Gruppe Spielkinder gemeinsam auftritt: Lina, Nils und Till Beckmann. Majas Theaterlaufbahn begann 2001 im Rahmen einer Elevinnenausbildung am Schauspielhaus Bochum, in deren Anschluss sie in das Ensemble aufgenommen und dort zum Publikumsliebling wurde, bis sie nach mehr als zehn Jahren ans Staatstheater Stuttgart wechselte, dann 2016 an die Münchner Kammerspiele ging und 2019 ans Schauspielhaus Zürich. Sie verbindet eine langjährige Arbeitsbeziehung mit dem Regisseur Christopher Rüping. Maja Beckmann wurde 2010 mit dem Bochumer Theaterpreis ausgezeichnet, 2019 für ihren Auftritt in Dionysos Stadt mit dem Theaterpreis Faust als Beste Darsteller*in Schauspiel und 2021 für ihr Spiel in den Inszenierungen Medea* und Einfach das Ende der Welt zur Schauspielerin des Jahres gewählt.

Lina Beckmann, von der in diesem Interview ebenfalls die Rede ist, ist die vier Jahre jüngere Schwester von Maja. Sie absolvierte die Westfälische Schauspielschule, war am Schauspielhaus Bochum und dem Schauspielhaus Zürich engagiert, ehe sie 2007 am Schauspiel Köln große Erfolge feierte; seit 2013 gehört sie zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses Hamburg. Sie wurde 2011 mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis geehrt sowie zur Schauspielerin des Jahres gewählt. 2015 erhielt sie den 3sat-Theaterpreis sowie den Rolf-Mares-Preis. 2016 wurde sie mit dem Ulrich-Wildgruber-Preis ausgezeichnet, 2018 mit dem Deutschen Schauspielpreis und 2021 mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring. Sie hat an vielen Kino- und Fernsehfilmen mitgewirkt. Mit ihrem Sohn und ihrem Ehemann, dem Schauspieler Charly Hübner, lebt sie in Hamburg.

Vasco Boenisch, Jahrgang 1980, ist Chefdramaturg des Schauspielhaus Bochum.

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Interview: Vasco Boenisch
Foto: Diana Pfammatter